Bearbeitungsstand: 27.04.2009
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Von Schlesien nach Freschluneberg, Westerbeverstedt und Hollen

Erlebnisbericht von Annelies Bischoff ( heute Lunestedt)
Annelies' Bischoffs Mutter hat auch einen Bericht geschrieben. Zu dem geht's hier mit Klick.

Nach der Veröffentlichung eines Zeitungsberichtes in der Nordseezeitung am 15.3.2005
meldete sich Reinhard Bock, der mit demselben Zug aus Schlesien nach Freschluneberg gekommen war.
zu seinem Kurzbericht geht es hier mit Klick.

1. Mai 1946: In der Mittagsstunde fährt in den kleinen Bahnhof von Freschluneberg ein langer Güterzug ein. "So - alles aussteigen!" sagt der Bauer, der in Stubben in den Viehwaggon zugestiegen ist: "Ihr kommt nach Hollen; die Gemeinde muss 35 Vertriebene aufnehmen." Aus einem der Wagen klettern ärmlich gekleidete, hungrige, erschöpfte Menschen: "Vertriebene" aus Schlesien - eine Woche zuvor aus ihrer Heimat von den Polen ausgewiesen. Aus ihrem Dorf vertrieben, in Viehwagen gepfercht und quer durch Nachkriegsdeutschland gekarrt - kommen sie aus Reichenau, Kreis Frankenstein. - Endstation?

In der Gruppe der Menschen, die ihre Habseligkeiten aus dem Zug laden, ist auch die 38jährige Hedwig Thienel, meine Mutter, mit fünf Kindern: Vier von ihnen drängen sich um sie, ich selbst im Alter von 14, meine Geschwister 11, 10 und 6 Jahre alt, der Jüngste von knapp anderthalb im Kinderwagen. Meine l7jährige älteste Schwester Grete ist auf der Flucht verloren gegangen, unser Vater irgendwo im Krieg vermisst.

"Kommt, wir müssen weiter! Ich bin Karl Gerken vom Hollener Kamp. Wollt ihr mit nach Hollen?" - "Wie? Was? Wo ist Hollen?" Die Flüchtlinge sagen Ja, und das ärmliche Gepäck wird auf einen wartenden Pferdewagen geladen. "Hüh!" Der Ackerwagen setzt sich in Bewegung. Der armselige Haufen folgt dem Gespann: 35 Vertriebene ziehen an diesem sonnigen 1. Mai in Hollen ein.

"Halt!" Der Wagen hält beim Bürgermeister Julius Meyer, der Flüchtlingsbetreuer Penner kommt dazu und gibt Anweisungen, sich die nächsten Tage beim Bürgermeister zu melden, Lebensmittelkarten abzuholen, und so weiter ...

Der Pferdewagen fährt durch den Ort, die Vertriebenen zu verteilen, von Haus zu Haus, von Hof zu Hof: Die Quartiere werden angewiesen, die Arbeitsfähigen sind bald auf die einzelnen Höfe verteilt. Aber eine Mutter mit fünf Kindern will niemand haben: "Es war kein Platz in der Herberge ..." - Es geht weiter: Schuldamm, Neue Reihe, Alte Reihe, Martensreihe, Sühne. Der Tag geht zu Ende, wir Kinder sind erschöpft und können nicht weiter.

"Schluss jetzt!" entscheidet der Flüchtlingsbetreuer: "Die Mutter mit dem Kleinen kommt zu Jan Grotheer, die beiden Mittleren zu Jan Tietjen und die beiden Großen zu Georg Seedorf, aber erst mal alle zu Grotheer!"

Grotheer
Irene Hogrewe(von links), Annelies Bischoff und Gerda Meier zeigen auf den Hühnerstall im Hintergrund bei Familie Grotheer. Dort haben sie gleich nach dem Krieg gelebt.

Johann Grotheer und seine Frau sind an diesem Feiertag nicht zu Hause, nur Oma und Opa halten die Stellung. Oma steht in der Küche und bereitet das Abendbrot für ihre Familie. Von der Invasion überrascht und von Mitleid erfüllt, bittet sie uns ungebetene Gäste zu Tisch. Sie verteilt das für ihre Leute bestimmte Abendbrot. "Milch, Milch!" ruft der Kleine - es ist ja auch eine Köstlichkeit nach den langen Monaten des Hungers: Milchsuppe und Bratkartoffeln sind ein Festessen!

Mit Menschlichkeit hat man uns aufgenommen - aber: sind wir wirklich angekommen? Ist dies jetzt das Ende von Flucht und Vertreibung?



Großburg
Ausschnitt aus der Schlesienkarte von 1905, Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Schlesien_1905.png
bearbeitet von Arnold Plesse

Wie ging es nun in Hollen weiter?

Da waren wir nun, Mama, Manfred, Gerda, Reni, Hartmut und ich, als die Älteste, in Hollen auf der Sühne in einem zehn Quadratmeter großen Raum mit einem breiten Bett, einem Stuhl und einem Schrank - ohne Ofen und ohne Kochmöglichkeit. Nach dem Abendessen - Johann Grotheer und seine Frau waren nach Hause gekommen - ging es ans Aufteilen: "Zwei zu Tietjen und zwei zu Seedorf." Reni und Gerda weinten und wollten nicht zu den "fremden Leuten". Manfred und ich waren tapfer und gingen zu Seedorf. Man nahm uns freundlich auf, und wir wurden in einem winzigen Zimmer untergebracht: "Habt keine Angst, wenn es in der Nacht poltert: Es ist nur das Pferd, das nebenan gegen die Wand schlägt ..." Doch nach diesem aufregenden Tag waren wir schnell eingeschlafen.

Am anderen Morgen - es war schon hell, als wir aufstanden - wurden wir von Frau Seedorf zum Frühstück eingeladen. Es gab Milch satt! Dazu selbstgebackenes Schwarzbrot mit Schmalz: So gut hatten wir schon lange nicht mehr gefrühstückt! Das gleiche bekamen wir noch einige Tage von Frau Seedorf serviert - einer lieben kleinen mütterlichen Frau - oder von ihren Töchtern Minna und Gesine.

Aber wie sollte es weiter gehen? Eine sechsköpfige Familie ohne Herd, Geschirr und Löffel? - Johann Grotheer sann auf Abhilfe: Die ersten Tage und Wochen wurden wir von Grotheers bekocht und mit dem Nötigsten versorgt. Es gab täglich zwei Liter Milch, und nachdem wir Lebensmittelkarten und etwas Sozialhilfe erhalten hatten, konnten wir bei Heini und Mine Busch einkaufen: Brot, Fett, Zucker und Fleisch, allerdings winzige Portionen.

Inzwischen besuchten wir größeren Kinder auch die Schule; ich ging in die Oberklasse zu August Staats. Nun galt es den Anschluss zu finden. Seit Sommer 1945 hatten wir keine Schule von innen gesehen. Deutschen Kindern war es durch die Polen verboten worden. So sprang ich aus dem sechsten Schuljahr gleich ins achte. Es klappte prima; wir waren schon immer gute Schüler gewesen. Nur mit dem Rechnen hatte ich anfangs noch Probleme. Morgens um Sieben ging es los. Wir liefen mit den anderen Kindern von der Sühne - es waren noch weitere Flüchtlinge und Ausgebombte da - über Harry Grotheers Weide, barfuß oder mit "Klapperlatschen". Das waren Sandalen mit Holzsohlen. In der Schule ging es ganz anders zu als wir es gewohnt waren. Kein Morgenappell mit Hitlergruß, sondern ein Morgengebet und ein Kirchenlied, dann wurde gelernt. Da ich keine Bücher hatte, musste ich immer bei Banknachbarn hineinschauen. Das Beste an der Schule aber war die Bücherei: Jeden Tag konnte ich zwei Bücher lesen, vor dem Unterricht, in den Pausen - und bisweilen auch in der Stunde. Zurück ging es dann wieder über Harry Grotheers Weide; aber erst gab es eine Pause bei der Oma Rietig, um etwas zu trinken, manchmal auch zu naschen: Die Großeltern und Tante Hilda, die mit dem gleichen Transport gekommen waren, hatten bei Harry Unterkunft und Arbeit gefunden. Hilda hatte zwei Tage lang in Hollen nach uns gesucht - niemand wusste, dass wir auf der Sühne abgeblieben waren.

Mittags stand für uns Essen auf dem Tisch. Wie Mama das immer geschafft hat, weiß ich nicht: Die Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten wurden immer geringer. Wieder half Jan Grotheer: Er schüttete für uns kleine Kartoffeln in den Erdkeller auf dem Hof. Schweinekartoffeln und Milch machten auch satt. Von Grotheers Mittagstisch fiel auch manchmal eine Suppe ab, mit Speck gekocht. Es schmeckte immer herrlich!

Der kleine, aufgeweckte Hartmut war zum Liebling der Oma Grotheer geworden. Er bekam jeden Morgen eine große Scheibe Stuten mit Butter und Mettwurst. Mama war für diese Hilfe dankbar und half auf dem Hof nach Kräften mit: Kartoffeln und Rüben pflanzen, hacken und ernten, im Torf, im Heu und beim Garbenbinden. Täglich gab es andere Arbeit für sie. Dafür konnten wir mietfrei wohnen, ab und zu gab es mal ein paar Eier oder sonst etwas zum Essen. So kam es, dass ich wie in Zeiten der Flucht Hartmut hüten musste und der Mutter zur Hand ging. In den Hollener Tannen wurde Holz geschlagen. Wir durften das Kopfholz sammeln, Jan Grotheer fuhr es auf den Hof, und Mama und Manfred hackten es klein.

Manfred wurde für Jan Grotheer bald unentbehrlich: Kaum war er aus der Schule und hatte gegessen, bekam er seine Aufträge: Pferde von der Weide holen, Biester zählen, auf dem Feld helfen und so weiter. - So hatten Grotheers mit der kinderreichen Familie doch nicht so schlecht abgeschnitten.

Während wir uns in der neuen Umgebung einrichteten und mit dem Überleben beschäftigt waren, blieben die großen Sorgen: Wo waren Papa und Grete? Wir ließen sie vom Roten Kreuz suchen; denn wie sollten sie uns sonst in Hollen finden?

Schlimm war aber auch das Heimweh: Wir konnten nicht glauben, dass wir unsere Heimat, unser Schlesien, für immer verloren hatten. Wann immer wir einem Bekannten begegneten, war immer die erste Frage: "Hast du etwas gehört? Wann geht es zurück?" Unser kleines gestrandetes Häuflein schloss sich eng zusammen, und wenn wir beisammen saßen, sangen wir die Lieder der Heimat.

Im Mai gab es in den katholischen Gegenden Schlesiens die Maiandachten zu Ehren der Gottesmutter Maria. Hier in Hollen war die Kirche weit entfernt, und so wurde in unserer Küche, unserem einzigen Aufenthaltsraum, ein kleiner Marienaltar aufgestellt: Sonntags hielten wir Maiandacht mit Oma, Tante Hilda, Familie Seifert und anderen: Wir dankten der Gottesmutter für ihren Schutz und flehten um ihre Hilfe - mit den Marienliedern aus Schlesien.

Hartmut wurde krank: Bei seiner geschwächten Widerstandskraft bekam er Scharlach und dazu Keuchhusten und lag wochenlang im Krankenhaus. Wir waren froh, als er wieder zu Hause war.

Das Jahr ging dahin, und Weihnachten kam näher, das siebte Weihnachten ohne Papa und Grete, fern der Heimat. Am Heiligen Abend wurden wir zu Grotheers ins Wohnzimmer eingeladen: Es gab einen richtigen Tannenbaum, Plätzchen, Äpfel und kleine Geschenke. Zum Dank dafür sangen wir die schönsten Weihnachtslieder. Grotheers, selbst kinderlos, sagten, es sei das schönste Weihnachten gewesen, das sie je erlebt hätten.

Das Neue Jahr 1947 brachte Schnee und bittere Kälte, und wenn wir mit unseren dünnen Klamotten zur Schule gingen, mussten wir alle paar Meter die dicken Schneeklumpen von unseren Holschen abschlagen. Die Lebensmittelversorgung wurde immer schlechter; es gab kaum noch Brot. Wir mussten weite Wege gehen, um an unsere Zuteilung zu kommen. Es gab nur noch Maisbrot, wunderbar gelb wie Kuchen, aber fade und schnell trocken. Einmal bin ich um ein Maisbrot bis Kransmoor gelaufen, in viel zu großen Männerschuhen und in zu weiten, unten abgeschnittenen Männerhosen - Hauptsache warm! Für ein kleines Stück Fleisch musste ich zu Fuß nach Stubben und war glücklich über Warners Milchwagen, der mich ein kleines Stück mit zurück nahm.

Unsere Schulentlassung Ostern 1947 gestaltete August Staats recht feierlich: Wir wurden "ins Leben geschickt". Bei Grotheer fing ich als Hausmädchen an und bekam ein eigenes kleines Zimmer! Die Tage waren lang. Früh um Sechs aufstehen, melken, Oma in der Küche helfen, Brot backen lernen, in der Waschküche mit der Hand Wäsche waschen; nachmittags aufs Feld, abends melken und Küche in Ordnung bringen - für 15 Mark im Monat. Johann Grotheer wollte, dass wir Plattdeutsch lernen: "Ich gebe dir keine Antwort, wenn du hochdeutsch sprichst!" - Ich hab' s gelernt.

Manfred hatte im Sommer ein paar Kaninchen im Stall. In seiner freien Zeit machte er mit seinem Freund Walter Hartmann Unsinn, stromerte durch die Feldmark, häutete Kreuzottern, fing Spatzen und versuchte sie im Ofenrohr zu räuchern.

Kurz vor Weihnachten veranstaltete August Staats bei Harry Grotheer eine Weihnachtsfeier der Schule - "De Wiehnachtsschool". Der kleine Hartmut hatte seinen ersten Bühnenauftritt. Er sagte ein kleines Weihnachtsgedicht auf. Wir mussten alle mit und waren stolz auf ihn. Mama und die Geschwister saßen nach der Feier noch bei Oma Rietig; ich wartete auf der Diele und redete mit Bekannten; ein junger Mann kam dazu, später brachte er mich nach Haus. Er hieß Hans-Helmut, und ich glaube, ich mochte ihn.

Das Weihnachtsfest feierten wir wieder bei Grotheers in der Stube; es war wieder schön, und ich bekam ein Paar selbstgestrickte Strümpfe und eine weiße Schafwolljacke.

Zu Beginn des Jahres 1948 kam ich zu Heinsohn auf der Dreieinigkeit in Stellung, jetzt für 20 Mark im Monat. Die Arbeit dort war schwer; ich musste viel mit dem Opa aufs Feld, melken, ausmisten, Mist aufladen und ausstreuen, ins Heu, Garben binden und in der Mittagsstunde "den Ossen achter de Dannen trecken". Opa Pape kam mit dem Fahrrad nach; im Haus und in der Küche war auch viel zu tun. Zweimal im Monat hatte ich am Sonntagnachmittag frei. Im Winter ging es zur Berufsschule bei Frau Stein in Westerbeverstedt, natürlich zu Fuß hin und zurück.

In dieser Zeit gab es für uns eine große Überraschung: Wir bekamen ein Paket aus Amerika mit Lebensmitteln und gut erhaltener Bekleidung und Schuhen, die wir so dringend brauchten. - Was uns nicht passte, tauschten wir gegen andere Sachen und das Beste: es blieb nicht bei diesem einen Paket - von fremden Menschen, die bis vor kurzem noch unsere Feinde gewesen waren: Grotheers hatten ihren Verwandten in Amerika von "ihrer" Vertriebenenfamilie geschrieben. Mama sagte: "Der Herrgott lässt uns nicht im Stich!"


Dieses Bild wurde für die Spender in Amerika aufgenommen, es musste mit Naturalien bezahlt werden.

1948 wurde Hartmut wieder schwer krank: Erbrechen, Fieber, ein Tag Besserung, dann wieder Fieber und Erbrechen. "Was wird er schon haben?" sagte der alte Hausarzt, "er hat sich mit grünem Obst den Magen verdorben." Als es ihm aber gar nicht besser gehen wollte, holten wir aus Freschluneberg einen jungen Arzt, Dr. Tritschler, der sofort die Diagnose "Malaria" stellte. Malaria? Gibt es so etwas in Hollen? Alte Hollener erinnerten sich an das "kohle Feber", das es in der Moorgegend gab. Hartmut kam nach Bremen ins Krankenhaus, aber als er sich erholt hatte, erkrankte Reni an demselben Übel. Ein Professor aus Hannover kam auf die Sühne. Er fand tatsächlich - eine Sensation! - in Grotheers Schweinestall Malariamücken, und nebenan wohnte ein Seemann, der die Krankheit aus den Tropen mitgebracht hatte. Die Diagnose des jungen Arztes, für die ihn Kollegen ausgelacht hatten, war richtig gewesen und hatte meine beiden Geschwister gerettet.

Endlich, im Frühjahr 1949, kam eine Nachricht über unseren Vater: Ein aus Gefangenschaft entlassener Kriegskamerad teilte uns mit, dass er lebte - in Polen in einem Gefangenenlager. Kurze Zeit später kam die erste Postkarte mit seiner Anschrift. Wir konnten ihm antworten! Das Rote Kreuz hatte ihn gefunden. Nicht lange danach stand dann - ebenso durch Vermittlung des Roten Kreuzes - auch unsere verloren gegangene Grete wieder vor der Tür mit einem kleinen Jungen namens Hartmut, dem ersten Enkel unserer Eltern!

Acht Wochen später: "Papa ist da!" Die Nachricht erreichte mich bei der Arbeit, und am Abend durfte ich nach Hause. Richard Kück hatte in der Nacht bei Tante Hilda ans Fenster geklopft: "Dein Schwager sitzt in Freschluneberg am Bahnhof und findet sich im Dunkeln nicht zurecht." Sie war noch in derselben Nacht hingelaufen, hatte ihn abgeholt und auf die Sühne gebracht. Dabei schleppte sie seinen schweren Rucksack; denn er war durch die Not im Gefangenenlager schwer erkrankt: Wasser in den Beinen und Verdacht auf Tbc - aber er war zu Hause. Nach ein paar Tagen musste er zwar noch einmal für längere Zeit fort ins Krankenhaus, doch dann war die ganze Familie wieder zusammen - Gott sei Dank!

Kaum war er wieder zurück, da erlitt unsere Mutter einen totalen Zusammenbruch: So viele Jahre lang hatte sie durchgehalten, für uns gesorgt, uns beschützt auf Flucht und Vertreibung, hatte für uns gebettelt und gehungert: Nun war sie am Ende ihrer Kraft. Papa war da, und sie konnte endlich ihre Verantwortung abgeben. Wochenlang dauerte es, bis sie sich wieder erholt hatte - für einen Neubeginn in einem Ort, der zu unserer neuen Heimat werden sollte.

Eine etwas ausführlichere Fassung dieses Erlebnisberichtes ist in der Chronik "900 Jahre Hollen" abgedruckt und getrennt als Buch bei der Verfasserin zu bekommen.


Bericht von Reinhard Bock, Langen, früher Westerbeverstedt, am 28.3.2005

Ich habe am 1. Mai 1946 als 11-jähriger Junge in demselben Zug gesessen, mit dem auch Familie Thienel in Freschluneberg angekommen ist. Die Fahrt verlief an mehreren Tagen von Frankenstein (Schlesien) über Kohlfurth / Görlitz - dort erste Entlausung - nach Marienthal bei Helmstedt (ein ehemaliger Fliegerhorst). Hier erfolgte eine weitere Entlausung und das Umsteigen aus den Viehwaggons in Personenwagen, z.T. in Schnellzugwagen. Danach ging die Fahrt nach Norden - kein Mensch wusste, wo sie enden würde.

Der Zug hielt zum ersten Mal in Stubben. Dort kamen Bauern mit Pferdefuhrwerken und luden die ersten Familien ein, die in den umliegenden Dörfern untergebracht werden sollten. Neben dem Bahnhof gab es eine Molkerei, und wir bekamen dort zum ersten Mal nach vielen Monaten frische Milch. Meine Mutter erkundigte sich, wo wir denn überhaupt wären. Als sie hörte, es ginge weiter an die Nordsee, entschied sie: "Hier steigen wir noch nicht aus, wir fahren weiter." Als der Zug Freschluneberg erreichte, stiegen wir aus. Mit einem Pferdewagen ging es dann nach Westerbeverstedt. Im Saal einer Gastwirtschaft - sie gehörte "Tante Emma" Brinkmann, heute "Deutsche Eiche" - wurden wir begrüßt und nett verpflegt. Anschließend brachte uns Bürgermeister Holscher zum Bauern Bischoff in die Dorfstraße. Dort wurde uns eine kleine Mehlkammer zugewiesen. Mit uns sind noch mehrere Familien aus diesem Zug nach Westerbeverstedt gekommen. Ich erinnere mich noch an die Familie Schubert, mit der wir bereits in Frankenstein im Viehwaggon untergebracht waren.

Unsere Familie bestand damals aus meiner Mutter, die durch eine Vergewaltigung schwanger war, und sechs Kindern im Alter von 1 1/2 bis 11 Jahren sowie meiner gehbehinderten Oma. Alle mussten in dem kleinen Raum unterkommen. Zum Kochen durften wir nur die große Küche benutzen. Ein besonderes Erlebnis war für mich in den nächsten Wochen die große Hochzeitsfeier des damals jungen Bauern Bischoff, der eine Frau aus Hollen heiratete.

Im Juni 1946 zogen wir in eines der Behelfsheime an der Straße nach Heerstedt, die vom Maurermeister Stölting aus Freschluneberg gebaut worden waren. Das andere Häuschen bewohnte seine Schwiegertochter Martha Stölting mit ihren Töchtern Margret und Waltraut sowie Herrn August Nüchter. Mein Vater kam Anfang August 1946 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft, so dass wir mit 9 Personen das kleine Häuschen bewohnten. Meine schulpflichtigen Geschwister und ich besuchten die Schule in Westerbeverstedt, die durch eine Luftmine schwer beschädigt war. Jeweils in einem Raum wurden die Klassen 1 - 4 und 5 - 8 von den Lehrern Luttkus und Bartusch unterrichtet. Leider kann ich mich nicht mehr an alle Mitschülerinnen und Mitschüler erinnern, doch einige Namen sind nicht vergessen: Helga Kück, Ilse Seedorf, Erika Bullwinkel, Inge Schmedes, Charlotte Kolsch, Friedhelm Stelling, Herbert Wittenberg, Willi Brending, Hans-Heinrich (genannt Heino) Prigge, Karl-Heinz Stamann, Quido Ruff, Arnold Hess, Helmut Kellmer, Herbert Meinken, Dietbert Rahmel und Josef Bonakowski. Mit Dietbert und Josef habe ich später eine Lehre als Schiffbauer bei der Rickmers-Werft in Bremerhaven absolviert. Die Lehrstelle hatte ich durch Fürsprache unseres Nachbarn Jendrossek erhalten, der bei Rickmers als Schiffbaumeister tätig war.

Zum Konfirmandenunterricht und zur Pflichtteilnahme an Sonntagsgottesdiensten musste ich zur Kirche nach Beverstedt laufen; denn ich besaß kein Fahrrad. Der damalige Pastor Günter Hart, war ein strenger Gottesmann, der uns Konfirmanden sehr viel zum Auswendiglernen aufgab. Konfirmiert wurde ich aber in Bleckede/Elbe.

Mein Vater fand ab Herbst 1946 im Fischereihafen Arbeit und wurde 1949 wieder als Zollbeamter eingestellt. Daher zogen wir Mitte Februar 1950 nach Bleckede. Um meine Lehre als Schiffbauer am 1.4.1950 antreten zu können, fand ich Unterkunft im Lehrlingsheim der AWO in Bremerhaven - heute Altenpflegeheim Villa Schocken. Nach einem Jahr zog ich wieder nach Westerbeverstedt zurück und wohnte bei der Familie Johann Kück, bis dessen Sohn Hermann heiratete. Danach wohnte ich ein paar Häuser weiter bei der Familie Dierk Kück / Stamann. Nach Abschluss meiner Lehre habe ich Westerbeverstedt im September 1953 verlassen und noch bis September 1955 in Bremerhaven gewohnt.

Zum Schluss noch etwas zur Vorgeschichte:

Bis Januar 1945 lebten wir in Sandowitz/Oberschlesien. Wir flüchteten zunächst nach Schweidnitz. Als die Front immer näher rückte, flohen wir mit der Oma mütterlicherseits nach Bad Kudowa/Grafschaft Glatz zur Mutter meines Vaters. Sie starb im Februar 1946, so dass ihr die Vertreibung erspart geblieben ist. Hier erlebten wir das Kriegsende. Im Juni 1945 fuhren wir zu meiner Tante nach Frankenstein, weil wir nicht mehr nach Oberschlesien zurückkehren konnten. Im Dorf Zadel (nahe Frankenstein) fanden wir eine Unterkunft, in der wir bis April 1946 lebten. Es war für uns eine sehr schwere Zeit. Wir trugen eine weiße Armbinde mit einem "N" - für "Niemiec" (= Deutscher). Hunger, Kälte und Misshandlungen standen auf der Tagesordnung.

In Frankenstein gab es Menschen, die für Polen optierten und daher bleiben konnten.

Sie übernahmen häufig die Wohnungen samt Möbel usw. von denen, die vertrieben wurden. Es war schlimm anzusehen, wenn sie dann aus den Fenstern lehnten oder vor der Haustür stehend mit spöttischen Blicken und manchmal auch Kommentaren die Menschenschlangen betrachteten. Diese zogen aus den umliegenden Dörfern des Kreises Frankenstein zu Fuß oder mit kleinen Handwagen und wenig Gepäck durch die Straßen zum "Elefanten". Es sind nicht wenige dabei gewesen, die später wieder ihre deutsche Abstammung hervorholten, um als "Spätaussiedler" in die wieder aufgebaute BRD zu kommen.

Von den Vertreibungen erfuhren wir durch die Menschen, die organisiert ab Januar 1946 in Frankenstein die Züge besteigen mussten. Als für die Einwohner des Dorfes Zadel Mitte April 1946 die Vertreibung anstand, forderte ein Lautsprecherwagen der polnischen Miliz alle deutschen Dorfbewohner auf, mit Handgepäck vor den Häusern Aufstellung zu nehmen. Meine Mutter weigerte sich, weil mein Bruder Günther (damals 4 1/2 Jahre) sehr schwer erkrankt war. Die Miliz holte einen Arzt, der die Transportunfähigkeit bestätigte. So konnten wir noch etwa 14 Tage bleiben. Im Gasthof "Zum Elefanten" in Frankenstein wurde uns ein laufender Transport zugewiesen, und so sind wir am 1. Mai 1946 nach Westerbeverstedt gekommen.

Reinhard Bock, 27607 Langen
schrieb seinen Bericht am 28.3.2005


Die Schicksalsjahre 1945/46

Von Hedwig Thienel, Hollen (H. Thienel ist die Mutter von Annelies Bischoff)

Weihnachten 1944 war gekommen, der furchtbare Weltkrieg schon seit 1939 und schien einem schrecklichen Ende entgegen zu gehen. Und Vater war Ostern das letzte Mal in Urlaub gewesen. Kummervoll und wehen Herzens richtete ich den Kindern ein Bäumchen her. Es war aus unserem Schrebergarten, ein ziemlich großer Baum, den ich mit der Frau Mischke, die über uns wohnte und auch drei Kinder hatte, einfach mittendurch teilte. Puppen hatte ich selbst gemacht und von der Frau Linke, der Tochter unserer Hauswirtin, bekam ich eine schöne Puppenküche mit soviel kleinem Geschirr. Die Freude bei den Kindern war unendlich groß, wenn auch der Vater bitter fehlte. Er war seinerzeit in Lübenstad, Kr. Leslau im Warthegau.

Neujahr ging vorbei und am 3. Januar wurde Hartmut als sechstes Kind geboren. Frau Schlums pflegte mich, obwohl sie selbst sehr krank war, sie musste 8 Tage später selbst ins Krankenhaus. Wir hatten tüchtig Schnee und es war sehr kalt, manchmal bis -25 oC. Es gab keine Feuerung, für 14 Tage 1 Eimer Kohle. Da räumte ich kurzer Hand unsere Betten in die kleine Wohnstube. Annelieses Bett stellte ich in die Küche. Ich kam zu der Zeit nicht raus, nur das Radio brachte beängstigende Nachrichten vom Vorrücken der Russen, unter anderem auch, dass Leslau auch in die Hände der Russen gefallen war. Meine Angst um meinen Mann war unendlich groß. Wohl hatte er, nachdem er das Telegramm von der Geburt unseres Jungen erhalten hatte, noch einmal geschrieben. Nun kamen alarmierende Nachrichten, die Russen waren bei Warschau durchgebrochen und kamen über Polen nach Oberschlesien!


Am Abend kam noch einmal ein Mann, vor dem ich mich eigentlich etwas fürchtete; er bat um Quartier. Wie ich merkte, schien er etwas Besseres zu sein, er hatte einen Diener, und er machte solche verstörte Augen. Wer weiß, wo der her war, zog aber am nächsten Morgen wieder weiter.


Als unsere Wagen, es waren 3 oder 4, in Wäldchen ankamen, waren wir alle wie Schneemänner, es war glücklicherweise nicht so kalt wie die Tage zuvor. Unser Kleiner lag so schön warm in seinem Wagen und schlief so friedlich. Im Bahnhof eine Menschenmenge, alle mit verstörten Gesichtern, in denen Angst stand ‚und stumm. Es hieß, der erste Zug wäre schon weg, um halb eins sollte noch einer kommen. Wir warteten vergebens, die Kinder waren müde, ich breitete Decken auf die Erde, wickelte sie hinein, und sie schliefen wirklich ein.

Gegen Morgen meldete sich der Kleine, ihn konnte ich ja stillen und versorgen. Der Morgen kam, und immer noch warteten wir auf den Zug. Der Kanonendonner setzte wieder ein, der einige Stunden still war. Die Kinder wachten auf und froren. Der Bahnhof war ungeheizt. Wenn man nur etwas Warmes für sie gehabt hätte, ich gab ihnen zu essen, aber so trocken schmeckte es auch nicht. Endlich mittags gegen elf gab es für jeden einen Becher heißen Tee. Dann hieß es wieder, um 1 Uhr kommt ein Zug von Breslau. Aber mir bangte, wie sollte ich mit meinen Fünf und dem Kinderwagen in den Zug kommen. Ohne Hilfe wäre es unmöglich, hatte doch auch Gepäck und einen Sack Betten für die Kinder mit. Ich ging deshalb zum Bahnvorsteher und bat ihn um Hilfe. Er fuhr mich grob an, da könnte jeder kommen, da müsse er sich erst überzeugen, bitte, und ich wies ihm das Kind im Wagen. Da wurde er freundlich, und tatsächlich, als der Zug einlief, kam ein Eisenbahner mir zu helfen.

Der Zug lief ein, aber überfüllt. Kein Platz! schrie es uns entgegen. Da werde ich Platz machen! Die Frau mit den Kindern muss mit! rief der Eisenbahner, und es ging! Der Kinderwagen, die Kinder, ich selbst, und auch das Gepäck wurde hineingeschoben. Nur der Sack mit den Betten ging beim besten Willen nicht mehr hinein, den band der Eisenbahner außen am Zug fest, da kam der auch noch mit. Wir standen wie die Heringe in der Büchse aneinander gepresst. Unterwegs bettelten die Kinder, lass uns zur Oma fahren. Eigentlich sollte es bis Habelschwert gehen. Um des Kleinen Willen entschloss ich mich, in Kamenz auszusteigen. Abends um sechs waren wir da. Eine Strecke. die sonst nur 1 1/2 Stunden gedauert hätte. Im Bahnhof dasselbe Bild: Menschen über Menschen; dort erfuhr ich, es gäbe für Kinder warme Suppe vom Roten Kreuz.

Ich suchte nun die Küche auf und bekam eine Schüssel heiße Mehlsuppe! Das erste warme Essen, und wie es ihnen schmeckte! Der Kleine wurde versorgt, aber was nun? Meine Mutter wohnte in Reichenau, etwa 5-6 Kilometer weg. Ich frug nach einem Telefon, nach langem Suchen fand ich eins; und rief die Mutter an, sie soll uns doch mit dem Kastenwagen abholen lassen. Es war 11 Uhr, als ein Pferdeschlitten kam. Mutter hatte tüchtig Stroh und Betten darauf gepackt, so konnten wir die Kinder warm einpacken Dann gings durch die kalte Winternacht zwischen aufgebauten Panzersperren auf der Landstraße nach Hause. Nach 12 Uhr waren wir da. In der Ferne rollte Geschützdonner. Die Kinder trugen wir schlafend aus dem Schlitten ins Haus, selbst die Großen wurden nicht wach. Nun waren wir daheim bei der Mutter. Aber auch hier schon alles gepackt und bereit zur Flucht. Es war der 26. Januar. Nur wir mussten abwarten. Fürs erste waren wir ja geborgen. Das Kind konnte doch wieder ordentlich versorgt werden.


An einem der nächsten Tage geschah es, als zwei Jungen von vielleicht 15 Jahren in Sträflingskleidung um etwas zum Essen baten. Die Mutter gab jedem ein paar tüchtige Schnitten und frug, wo sie herkämen. Wir sind Juden, und kommen aus Auschwitz. Wir waren 4000 und wurden von einem Ort zum anderen getrieben - wohin, keiner weiß es! Die Schuhe in Fetzen. Hunger! Hunger! Viele brechen unterwegs zusammen, die nicht mitkönnen, wurden erschossen von der SS, die uns treiben. Es stellte sich heraus, dass in den Ställen der Bauern 30 - 40 untergebracht waren. Sie bekamen eine Handvoll Kartoffeln und wohl auch manches mehr, was ja nicht sein durfte, aber es waren doch Menschen, darunter Rechtsanwälte, Ärzte und so weiter. Zwei Tage blieben sie, dann ging es weiter. Viele starben hin, oder wurden von diesen Unmenschen erschossen, und dann bei Nacht und Nebel in einem Sumpf versenkt, es sollen über 30 gewesen sein! Als der Elendszug an unserem Haus vorbeizog, krampfte sich unser Herz zusammen, wir sahen zu, und konnten doch nicht helfen! Wir dachten an unsere Männer in der Gefangenschaft, wenn es ihnen auch so ging. Es war doch Februar, den meisten waren Hände und Füße erfroren.

Am 8. Mai kam die Sondermeldung von der bedingungslosen Kapitulation, also vom Kriegsende! Admiral Dönitz brachte die Erklärung am späten Abend! Was würde aus uns werden? Wir mussten ja wieder nach Hause. Schwester Maria hatte mit dem Lehrer Verbindung aufgenommen mit einigen freundlichen Tschechen, die uns auf Schleichwegen zum Bahnhof brachten, die Hauptstrassen waren voll Russen. Am Bahnhof mussten wir ein paar Stunden warten und waren den Schikanen einiger patroullierender Tschechen ausgesetzt, bis der Zug kam, und wir erleichtert einsteigen konnten und selbst da wurde nach Deutschen gesucht.


Um den Kindern so schnell wie möglich normales Essen geben zu können, ging ich auf den Hof arbeiten. Wir kriegten jeden Mittag einen Topf voll Suppe von den Russen. Später ging ich in den Stall melken und ich hatte auch Milch für die Kinder. Im Hofe waren über 100 Kühe aufgestallt, die die Russen den Bauern weggenommen hatten, die von 3 Frauen versorgt wurden. Wir mussten auch aufs Feld, in die Ernte und wurden von Russen mit Gewehren bewacht. Ende August kamen Polen ins Dorf, sie übernahmen das Dorf und die Bürgermeisterei. Die Bauern mussten die Schlüssel von Küche und Keller, von den Kleiderschränken abgeben, sie hatten kein Recht mehr über Vieh und Getreide, und mussten wohl arbeiten, und mussten mit dem zufrieden sein, was die Polen ihnen an Essen, Milch usw. überließen.


Im Frühjahr tauchten Gerüchte auf, wir Deutschen müssten weg; und im April war es dann soweit. Am 24. April kam die Parole, wir sollten uns um 5 Uhr an der Neissebrücke versammeln. Wir durften nur Handgepäck mitnehmen, kleine Handwagen waren erlaubt. Ich hatte ja nicht viel zu packen, das beste war ja schon in Großburg geblieben. Mittags um 1 Uhr, so lange mussten wir warten, kam eine Kolonne Russen und es ging los, zu Fuß nach Frankenstein, ein trauriger Auszug aus dem heimatlichen Dorf! Nach ein paar Stunden kamen wir an und wurden in einem Gasthaus einquartiert, der "Elefant", der dem Bahnhof am nächsten lag. Wir wurden registriert, blieben eine Nacht und wurden am nächsten Tag zur Abreise zum Bahnhof gebracht. Wir kamen in die englische Zone nach Norddeutschland, in den Kreis Wesermünde.



Hedwig Thienel hat am 25. April 1958 ihre Empfindungen aufgeschrieben in dem Gedicht:

Gedicht von Hedwig Thienel

Vertreibung 1946

Aus dem Heimatdorf vertrieben wurden wir durch Feindeshaß,
beraubt und ausgeplündert, so zogen wir fürbaß.
Die Bündel auf dem Rücken, die Augen leergeweint.
Wir wussten nicht, wo morgen die Sonne für uns scheint.

Die Russen uns zur Seiten,
Gewehre in der Hand,
wie Sträflinge wir schreiten,
wohin? - uns unbekannt.

Der "Elefant" in Frankenstein
war unser erstes Ziel.
Sonst ein Hotel - gemütlich, fein,
nun war's Flüchtlingsasyl.

Wir wurden aufgeschrieben,
gezählt und numeriert,
mit dem, was uns geblieben,
zum Bahnhof hingeführt.

Dort stand für uns schon fahrbereit
ein langer Güterzug,
wir wussten nun, es ist soweit,
Wir hatten auch genug.

Noch einmal gab's Kontrolle,
man verstand dort keinen Spaß,
und war sie endlich alle,
da fehlte jedem was.

Dann wurden wir verladen,
genau wie's liebe Vieh,
wir zwängten uns zusammen,
es ging, fragt nur nicht wie.

Die Alten und die Kleinen,
die waren am schlimmsten dran,
und öfter sah man weinen
selbst manchen harten Mann.

Fünf Tage und fünf Nächte
ging's quer durch' deutsche Land
bis man uns ausgeladen
hat hier am Weserstrand.

Der Bahnhof in Freschluneberg
macht unsrer Fahrt ein Ende,
es standen viele Menschen da
und reichten uns die Hände.

Man nahm uns auf mit Menschlichkeit
wir hätten's kaum gedacht.
Auf Bauernwagen lud man uns
und auch die arme Fracht.

So fuhren wir in Hollen ein
mit wehen, bangen Herzen.
Man wies uns die Quartiere an,
wir dachten heim mit Schmerzen.

Nun gingen viele Jahre ins Land,
ein jeder rührte fleißig die Hand,
schuf sich ein neues bescheidenes Heim, doch wie früher zu Hause wird's niemals sein!


Quellen
Aufzeichnungen von Annelies Bischoff
und ihrer Mutter Hedwig Thienel
Zum Anfang des Berichts von Annelies Bischoff
Zur Leitseite zum Thema Flucht und Vertreibung
Zur Leitseite zum Thema Kriegsende
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