Zusammengestellt vom Ortsheimatpfleger Arnold Plesse.
Bearbeitungsstand: 04.02.2009

Hilla Hamann und Betty Albert (geborene Lyssewski) erzählen von ihrer Flucht aus Rosenheide (heute Rożyńsk) im Kreis Lyck (heute Ełk)

Hilla Hamann und Betty Albert
Hilla Hamann (rechts) zeigt, wo Rosenheide, Krs. Lyck auf der Karte zu finden ist. (Foto: Arnold Plesse)

Unsere Flucht begann am 21. Januar 1945. Wir hatten schon 3 oder 4 Wagen fertig gemacht, d.h. mit einem Kastenaufbau versehen. Es kamen bereits öfter Flüchtlinge aus dem Osten, die zogen dann auch weiter. Aber man durfte ja noch nicht fliehen. Unser Großvater war 73 und hatte Asthma, der Vater war im Krieg und außer unserer Großmutter (63) und Mutter (35) waren da Käthe (11), ich (Hildegard, 8 1/2) und Elisabeth (5). Auf unserem Hof gab es auch einen Russen, einen Polen, einen Franzosen, einen Viehhirten und eine Ukrainerin. Die wurden bei uns gut behandelt. Wir wohnten etwa 2 km außerhalb des Dorfes Rosenheide.

Rosenheide
Bearbeitet nach Ronald Preuss: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Preussen_gross.jpg
Rosenheide (heute Rożyńsk) liegt einige Kilometer westlich von Lyck (heute Ełk)

Schließlich machten unsere Großeltern, unsere Mutter und wir Kinder uns auf den Weg, die anderen sollten mit dem Vieh nachkommen. Unserer Mutter war es bei dem Trubel der beginnenden Flucht nicht recht, mit Pferd und Wagen zu reisen. Deswegen machten wir uns von Rogallen aus mit dem Zug auf den Weg. Bis nach Korschen (heute Korsze, ca. 100 - 150 km, etwa auf halbem Wege von Lyck nach Königsberg) brauchten wir fünf Tage. Dort wurde der Zug für das Militär geräumt. Wie wir unsere großen Kisten mit Kleidung usw. transportierten, weiß ich heute nicht mehr. Es gab keine Möglichkeit mehr weiter zu kommen. Um uns her gab es auch schon Straßenkämpfe. Unsere Mutter fragte einen Soldaten um Rat. Er meinte: "Ich sage Ihnen, was ich auch meiner Frau sagen würde: Machen Sie, dass Sie weg kommen!" Ein anderer Soldat führte uns durch die Schusslinie. Öfter bedeutete er uns "Still! Still!" und schließlich sagte er: "Gott befohlen! Gehen Sie in diese Richtung weiter!"

Auf unserem Weg, den wir zu Fuß weiter gingen, sind wir auch durch Schippenbeil (heute Sepopol) und Bartenstein (heute Bartoszyce) gekommen. Die Häuser waren schon verlassen, man konnte dann in ihnen etwas zu essen finden. Mit Waschen und Schlafen war es immer schwierig. Und dann haben wir doch wieder einen Zug zu fassen gekriegt. Viehwaggons waren das natürlich. Bei Beschuss haben wir uns flach auf den Boden gelegt. Durch Mehlsack (heute Pieniezno) sind wir auch gefahren. Und dann hat eine Frau ihre Wäsche aus dem Koffer geholt. "Ich hab' Reizwäsche!" hat sie gerufen, weil Durchschüsse darin waren. In den Orten Heiligenbeil (heute Mamonowo) und Braunsberg (heute Braniewo) waren wir. Dort ist unsere Mutter losgegangen. "Ich will mal sehen, wo ich was zu essen kriege", hat sie gemeint. Und als sie wiederkam, war sie ganz grau. Sie hatte sich bei einem Angriff in einen Hauseingang gedrückt. Und dann war sie verschüttet worden. Bei einem Soldaten hat sie sich im Koppelriemen festgehalten. Und als der sich freigeschaufelt hat, war sie auch gerettet. Danach hat sie uns Kartoffelpuffer gemacht.

Wir waren mit einem kleinen Schlitten unterwegs. Als wir am Haff angekommen waren, hieß es: "Alte Leute und Kinder auf den Wagen!" Wir Kinder kamen auf einen Wagen und der Großvater auf einen anderen Wagen. Die Mutter und die Großmutter sind zu Fuß gegangen. Über das Eis des Kurischen Haffs sind wir nach Kahlberg (heute Krynica Morska) gegangen. Den Opa haben wir nicht wieder gefunden, es hatte sich ja die Reihenfolge der Wagen immer mal geändert. Und dann sind wir in Danzig gewesen. Weil es da Beschuss gab, sind wir in die Kaschubei ausgewichen nach Gotenhafen (=Gdingen/Gdynia) und Habichtsberg (heute Jasztrzębia Góra). Da hat unsere Mutter irgendwann auch das Tafelsilber fortgeworfen: "Weg! Weg! Nur das Nötigste schleppen wir!" Dann sind wir wieder nach Danzig zurück gelaufen. Unsere Mutter sagte nun: "Alle hauen ab, wir bleiben auch nicht hier!" (Ursprünglich hatte man ja gedacht, wir würden nur für kurze Zeit aus der Heimat weggehen müssen. Einige hatten das ja auch im 1. Weltkrieg erlebt und waren zurückgekommen.) Alles brannte, auch die Schiffe brannten. Dann sind wir in einem Kutter gefahren, gebückt wegen des Beschusses. Wir sind auf der Halbinsel Hela gewesen und in Zopot (heute Sopot).

Von irgendeinem Hafen sind wir dann mit dem Zerstörer "Paul Jakobi" über die Ostsee gebracht worden. Das Schiff brachte Verwundete und Flüchtlinge fort. Auf dem Schiff gab es Nudelsuppe - "egal was da drin war, Hauptsache warm!"

Bleibende Eindrücke waren die im Haff eingebrochenen Wagen. Pferde lagen da herum. Am Wegesrand wurden auch kleine Kinder in den Schnee gelegt.
Es war sicher besonders schwierig für die Mutter und die Großeltern, den Hof und das Vieh zurück zu lassen, während der Vater in Italien im Krieg war. Unterwegs hörten wir auch häufiger brüllendes Vieh, die Kühe hätten doch gemolken werden müssen. Unser Opa wollte sich irgendwann während der Flucht nicht mehr hinunter bücken, so als wolle er sagen "Trefft mich doch, das ist auch egal."

Ende März kamen wir dann in Dänemark an, in der Nähe von Kopenhagen auf einem Sommersitz "Hornbaek". Nebenan war eine Schule, die dänischen Kinder schmissen mit Steinen nach uns. Wir konnten uns aber wohl frei bewegen, von den Soldaten hatten wir wohl Geld. Jedenfalls kauften wir beim Bäcker ein. Bis zur Kapitulation am 8. Mai! - Dann wurden wir bei Alborg "interniert". Nun kamen wir hinter Stacheldraht. In einem Raum einer Baracke waren wir 45 Menschen, davon 21 Kinder. Geschlafen haben wir in dreistöckigen Betten: oben die ältere Schwester, dann ich (Hilla) mit der Mutter und unten du (Betty) mit der Oma. Wenn wir ein Flugzeug hörten, sind wir gelaufen, weil wir dachten, wir müssten uns in Sicherheit bringen. - Später waren dann noch drei Familien in einem Barackenraum.

Wir sind dort bis November 1947 gewesen. Versorgt wurden wir von den Dänen. Aber in der Küche arbeiteten Deutsche. Die versorgten sich erst mal. Es gab auch Kontrollen von den Dänen, aber es herrschte Hunger bei den meisten. In der Zeit wurden Schulen eingerichtet. Unter den Flüchtlingen waren ja auch Lehrer. Ich (Betty) wurde da eingeschult. Aus dem Lager konnte man nur entlassen werden, wenn man eine Adresse hatte, wohin man wollte. Unser Vater war inzwischen bei Tante Frieda in der Nähe von Stade. Und wir haben dann auch deren Adresse angegeben. So kamen wir wieder zusammen. Am Buß- und Bettag (das war der 19. November) wurden wir mit Lastwagen durch Dänemark gefahren, durch Hamburg bis nach Stade. Unser Vater nahm alle Arbeiten an, im Straßenbau und auf dem Flugplatz hat er gearbeitet. Wir gingen dann zur Schule. - Und durch Heirat und Familiengründung sind wir dann nach Lunestedt gekommen.

Was war das Schlimmste auf der Flucht? (Hilla:) In Hektik vor den Russen wegzulaufen. (Betty:) Die Kälte im Januar war schlimm. (Hilla:) Obwohl wir ja alles doppelt und dreifach angezogen hatten. - Einmal fanden wir in einem Kino im Schuhkarton ein paar Kartoffeln. (Betty, 5 J.:) Ich hab' gesagt: "Ich trag die auch!" Die Mutti hat gesagt: "Wo soll ich die denn aber kochen?"

Trotz allem haben wir einen Schutzengel gehabt, dass wir keine Krankheiten bekamen, dass wir keine erfrorenen Glieder hatten! - Gab es auch was Schönes? (Hilla:) "Nee!!!" - (nach einem Moment des Überlegens:) "Na ja, in Dänemark hast du (Betty) einen Soldaten an seine eigene Tochter erinnert. Er wollte dir dann ein Stück Kuchen kaufen." (Betty:) "Aber ich wollte es nicht nehmen" obwohl dann gesagt wurde "das kannste doch nehmen!" Und bei unserer Mutter muss wohl nach all dem schlimmen Krieg eine große Angst geblieben sein, lebendig begraben zu werden. Wir mussten am Ende ihres Lebens immer das Licht anlassen. Und sie hat gesagt "Schneidet mir in den Finger, damit ihr sicher seid, dass ich tot bin!"


Quellen
Das Gespräch vom 15. Februar 2005 wurde aufgeschrieben von Arnold Plesse.
Er hat auch die Ortsangaben der heutigen polnischen Karte hinzugefügt.

Internetseiten:
Landsmannschaft Ostpreußen www.ostpreussen.de

Geschichtlicher Überblick von 98 n.Chr. - 1947 www.jlo-bw.de/ueberblick_ostpr.htm

Benno Dieter Dibowski hat im Ruhestand Informationen über Masuren zusammengetragen.http://masuren-report.de

Ostpreußen-Seite (Ortsnamen, Ermland, hist. Zeitungen, Literatur) www.geocities.com/Athens/Styx/5329/index.html
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