Bearbeitungsstand: 13.03.2005
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"Hier waren schätzungsweise mehr Flüchtlinge als Einheimische"

Empfindungen
- aufgeschrieben von der Chronistin
in Weserbeverstedt, Marie Grab.
Untertitel von Arnold Plesse



Marie Grab notierte in der Westerbeverstedter Chronik noch unter dem 11. März 1945:

Heldengedenktag
Die Namen der bisher Gefallenen unseres Ortes mögen hier folgen.
Ein kleines Plätzchen im fremden Land
darüber die segnende Gotteshand.
Ein kleines Plätzchen, ein Kreuz von Holz
umspielt von Blumen und Sonnengold.
M.G.

Dann folgen 19 Namen.


Unter dem 18. März notierte Marie Grab:

Die jungen Mädel unseres Dorfes werden jetzt zu Feuerwehrübungen herangezogen. Jeden Sonntagmorgen ist Dienst. Die Leitung hat Opa Koop.


Der erste Treck - mehr Flüchtlinge als Einheimische

Und danach folgt die Eintragung:
Am 15. März traf hier ein Treck Flüchtlinge ein. Sie kamen spät abends an und wurden fürs erste auf Stroh in der Schule untergebracht. Am anderen Morgen wurden sie dann einquartiert. Das gab viele Umstände und noch viel mehr Unruhe im Dorf. Die Zahl der Unterzubringenden war groß und der Wohnraum wurde schmal. Das gab viele Reibereien. Wie sich alles einigermaßen eingelaufen hatte, kamen neue Flüchtlinge. Auch sie wollten untergebracht sein. Sie wurden untergebracht, aber der Zustrom war noch nicht alle. Schließlich waren hier schätzungsweise mehr Flüchtlinge (mit den Ausgebombten) als Einheimische. Sonst kannte man jeden Menschen im Dorf. Jetzt blickt man immer in fremde Gesichter. Alle Dialekte schwirren durcheinander. Ostpreußen, Schlesier, Bessarabier, Pommern, Berliner kamen nach hier. Auch aus dem Westen kamen einzelne. Wo bleibt unser heimisches Platt? Wird es leiden unter diesem Mischmasch? Es sind so schon zu viele unter den Einheimischen, die mit ihren Kindern hochdeutsch sprechen.


Flüchtende Soldaten - große Unsicherheit

Im April begannen flüchtende Soldaten hier durchzukommen. Einzelne, dann in kleinen Trupps. Immer mehr kamen. Allnächtlich mußte man welche aufnehmen. Manche waren wohl flüchtig, andere waren von ihrer Truppe abgekommen, wieder andere kamen halb krank aus aufgelösten Lazaretten. Sie irrten umher und waren dankbar, wenn sie eine Nacht im Heu unterkommen konnten. Der Geschützdonner kam immer näher. Tiefflieger waren fast dauernd hier. Sie griffen Autos und Pferdefuhrwerke an. Die Milchwagen trauten sich kaum noch zur Molkerei. Die Kinder gehn nicht mehr zur Schule. Es gibt keinen elektrischen Strom mehr und keine Zeitungen. Lebensmittel werden in größeren Mengen ausgeteilt. Zucker, Butter, Öl, Fleisch! Während des ganzen Krieges haben wir nicht so viele gute Lebensmittel auf einmal im Haus gehabt. Die Männer sind auch zu Hause. Sie können nicht zur Arbeit gehen, weil keine Züge fahren. Zuletzt geben auch die Tiefflieger Ruhe. Wir sind vollständig von der Welt abgeschlossen. Die großen Zuteilungen kamen uns gut zustatten. Es konnten keine Wagen mehr in die Stadt, um Lebensmittel heranzuholen.


Nur der Bauer pflügt und sät

Nur der Bauer steht unentwegt auf dem Felde. Er pflügt und sät, wie immer. Was für Gedanken mögen hinter der undurchdringlichen Maske seines Gesichtes stehen? Es ist, als lebten wir alle in einem Erholungsheim, abgeschlossen von den Sorgen der Welt. Und doch sind wir in einer furchtbaren Lage. Wo sind unsere Männer, Söhne, Brüder? Die Sorge ist in den Herzen der Angehörigen riesengroß. Es kommt keine Post, und im Krieg geht jetzt alles drunter uns drüber.


Gibt es ein "Morgen"? - Kommt die Front auch zu uns?

Und morgen? Ja morgen kann auch über den scheinbaren Frieden unseres Dorfes die unerbittliche Front hinwegbrausen. Man sagt, die Front sei in Bremen. Schon heißt es wieder, sie sind in Osterholz. Keiner weiß es richtig. Morgen! Doch am anderen Morgen wachen wir auf in unserem Bett wie immer. Wir gehen nach draußen und können es kaum faßen, daß unsere Häuser noch stehn und daß die Front nicht näher kam. So ist das jeden Morgen. Was ist das nur? Der Geschützdonner zieht vom Süden ostwärts. Wir atmen auf. Vorläufig scheint es an uns vorbeizugehn. Aber noch ist Gefahr. Überall werden unentbehrliche Sachen vergraben. Das Nötigste wird in Koffer gepackt. Man kann nie wissen. Die Front ostwärts scheint näher zu rücken. Endlos rollen Panzerwagen die Wesermünder Straße hinauf. Morgen! So kamen wir durch den April. So kamen wir bis zum 4. Mai. Am 4. Mai kam vormittags ein regulärer Truppenteil hier an, belegte Quartiere, legten Leitungen und Verbindungen. Es war Ernst geworden diesen Morgen. 15 - 20 Kilometer war die Front noch entfernt. Am andern Tag mußten sie hier sein. Damit rechnete auch die Truppe. Wir hatten uns in unser Schicksal ergeben. An Flucht dachte keiner. Wohin hätten wir auch fliehen sollen? Wir saßen ja in dem letzten kleinen Kessel, der noch nicht vom Feind besetzt war. Wir rechneten damit, daß wir im Moor oder im Wald Schutz finden würden, falls unsere Häuser zerschossen würden. Dazwischen schwang in uns die Hoffnung, daß es doch nun bald zu Ende gehen müsse. Morgen. Nur nicht denken. Alles vor uns ist dunkel.


Bedingungslose Kapitulation in Norddeutschland!

Und dann kam doch alles ganz anders. Noch am späten Abend des 4. Mai lief eine unerwartete Nachricht durch den Draht: "Bedingungslose Kapitulation im ganzen Nordwestdeutschen Raum!"

Quelle
Handgeschriebene Ortschronik von Westerbeverstedt
Untertitel von Arnold Plesse
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