Zusammengestellt vom Ortsheimatpfleger Arnold Plesse.
Bearbeitungsstand: 14.01.2011

"Ausgebombt" - von Bremerhaven über Sachsen-Anhalt nach Freschluneberg

Klaus Wulff erzählt vom Verlust der Wohnung in Bremerhaven

Klaus Wulff
Foto: Arnold Plesse

Am 18. September 1944 wurden wir in Wesermünde ausgebombt. Ich war gerade zur Schule gekommen (damals im September) und hatte "ma, ma, mä mu" gelernt. Wir wohnten in Geestemünde in der Schillerstraße 57 (zwischen Foto Grobrügge und Elektro Schlüter). Mein Vater war 1941 in Russland gefallen. Außer meiner Mutter gehörte noch mein Bruder Karsten zur Familie. Ich ging zur Allmersschule in der Allmersstraße. Das war über die Straße "An der Mühle" nicht weit weg. Es gab auch einen Hochbunker. Den haben wir aber oft nicht aufgesucht, weil unser Keller sicher schien. Der Hauswirt war ein Zimmermann bei Fa. Stender und hatte den Keller wie ein Bergwerk mit Holzbalken abgestützt.

Eine Tante von mir war in Leipzig bei den Flak-Helfern. Die hatte gehört, dass auf Bremerhaven ein Angriff zukäme und uns angerufen. Der Keller hatte ein Belüftungsloch das in den Innenhof der Häuser hinausführte. Es war mit einem Holzpflock verstopft, der im Laufe des Bombardements von den heftigen Druckwellen immer wieder heraus gedrückt wurde. Bis auf den Hauswirt waren nur die Frauen und Kinder der vier Bewohnerfamilien im Haus. Als die Erwachsenen den zunehmenden Feuerschein durch dieses Loch erkannten, blieben wir Kinder allein im Keller. Die Erwachsenen versuchten, zu retten, was noch zu retten war. Auf unser Haus waren nur Stabbrandbomben gefallen, die sie auch löschen konnten. Da die beiden viel größeren Nachbarhäuser von Phosphorbomben getroffen waren, machte die enorme Hitze alles zu nichte. Als auch noch die Holztreppe und die Holzverkleidung des Kellerabganges bald nicht mehr passierbar waren, mussten wir auf Druck von Luftschutzhelfern Haus und Keller verlassen. Alles rundherum brannte und der brennende Phosphor ergoss sich über die Gehsteige. Deshalb wurde uns nasse Kleidung übergezogen, damit wir die Straßenmitte erreichen konnten. Wir konnten dann über die Kreuzung "An der Mühle" Richtung Geestemünder Friedhof fliehen und kamen für die Nacht bei Bekannten des Hauswirts in der Bürgerparksiedlung unter. Die hatten einen Garten - am nächsten Morgen gab es Birnen.

Dann machten wir uns auf den Weg zu einem Onkel in Mitte. Beim Weg über die Geestebrücke erinnere ich mich noch an ein totes Pferd, das auf den Schienen lag. Alles Holz der Brücke war weggebrannt. Für Fußgänger hatte man neue Bohlen ausgelegt. Da ich nicht ins Wasser sehen mochte, wurde mir der Weg über die Brücke schwer. Wir gingen die Fährstraße geradeaus bis zum Theaterplatz. Dort war noch alles verqualmt, sie trugen Tote und Verletzte raus. Wir gingen am Alten Hafen entlang zum Weserdeich, an der Strandhalle vorbei bis zur Schleusenstraße und von dort zur Kaiserstraße. Bei meinem Onkel dort konnten wir nicht bleiben, weil der auch nicht genug Wohnraum hatte. Weg kamen wir aber auch nicht, weil ich mit Diphterie nach Drangstedt ("Knüppelholz") ins Krankenhaus kam. Dann bekam ich auch noch Scharlach und Windpocken und konnte erst nach 6 Wochen aus dem Krankenhaus entlassen werden.

Im November erhielten wir dann eine "Zuzugsgenehmigung" nach Sachsen-Anhalt. Mein Vater war Bremerhavener, aber meine Mutter kam aus Merseburg. Wir sollten in Leuna eine kleine Wohnung bekommen. Der Zug hielt bei Düring wegen Tieffliegern im Wald. (Später habe ich deswegen gesagt, ich wäre schon in Thüringen gewesen.) Diese Episode unserer Evakuierung, mit dem besagten Zugstopp im Düringer Wald wegen eines Fliegerangriffs, mündete darin, dass wir zunächst in die Wohnung meiner Großeltern einzogen, es war nicht unsere eigene. Wir kamen nachts dort an, mußten noch in der selben Nacht in den Bunker. Und bei der Rückkehr am Morgen war auch diese Wohnung zerstört. Aber unsere wenigen Sachen, die wir mitgenommen hatten, konnten gerettet werden. Danach sind wir dann bei einem Bruder meiner Mutter in Merseburg untergekommen und bekamen in dem Hause anschließend noch eine kleine Wohnung - in der vierten Etage "unter'm Dach juchhe".

Klaus Wulf mit Oma
"Das Foto zeigt mich mit meiner Großmutter im Frühjahr 45 im Garten hinter deren im Sommer 44 zerstörten Haus. Der Garten wurde noch eine Weile zur Eigenversorgung weiter bestellt." (Foto: Klaus Wulff)

Dort haben wir auch das Ende des Krieges erlebt. Als die Amerikaner das Gebiet an die Russen übergeben haben, sind wir im Sommer 1945 auf die Flucht nach Westen gegangen. Es war schrecklich warm: es war ja Sommer, aber wir mussten Kleidung übereinander anziehen, damit wir sie nicht zu tragen brauchten. Wir wurden geschleust. Nach dem Einmarsch der Russen hatte sich meine Mutter entschlossen, aus der sogenannten sowjetischen Besatzungszone wieder zurück in unsere alte Heimat Bremerhaven zu fliehen. Wir fuhren mit einem Zug aus geschlossenen Güterwagen von Halle aus zunächst bis in den Zonengrenzort Oebisfelde, der seinerzeit noch ein großer Eisenbahnknotenpunkt an der Strecke Hannover-Berlin war. Bei Nacht mussten wir dort die Zonengrenze nach Niedersachsen, die von den Russen streng bewacht war, mit noch etlichen anderen Flüchtlingen überwinden. Haupthindernisse waren die Durchquerung der Aller, die dort auch heute noch z. T. die Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen bildet und ein bereits bestehender Grenzzaun. Soweit ich mich erinnere halfen letztlich russischen Soldaten, die den Trupp aufgespürt hatten, die Aller zu durchqueren. "Als Dank" mussten wir alles abgeben, was den Russen wertvoll erschien. Mit viel Angst im Leib erreichten wir bei Tagesanbruch einen Grenzzaun, durch den uns dann Menschen von der niedersächsichen Seite hindurchhalfen. Irgendwann wurden wir von englischen Soldaten aufgesammelt und auf Militärlastern zum Bahnhof nach Wolfsburg gefahren. Mit meinen damals 7 Jahren blieb mir von dort die seinerzeit wohl übliche Desinfizierung durch die Engländer, auch Entlausungsaktion genannt, in Erinnerung. Mit einem Blasebalg wurde einem ein weißes Pulver in jede Bekleidungsöffnung gepustet. Von Wolfsburg aus sind wir dann mit dem Zug nach Bremerhaven gelangt.

In Bremerhaven kamen wir bei Onkel und Tante unter. Der Onkel arbeitete in einer Färberei. Über damals übliche Tauschkontakte kamen wir zum Bauern Fritz Riedemann im Busch in Freschluneberg. Nach einer Evakuierungsbescheinigung sind wir seit 8. Oktober 1945 dort gewesen.
evakuierungsbescheinigung
Das kann aber nicht stimmen: Ich erinnere mich, wie die Amerikaner Fritz Riedemann abholten - und das war Anfang August 1945. Dieser martialische Auftritt hat mich sehr beeindruckt. Ein Fahrzeug kam über die Holpersteine der Straße angebraust, fuhr rückwärts an das Haus heran und die bewaffneten Soldaten sprangen herunter und ins Haus, bevor sie mit Riedemann wieder abfuhren. Ich erinnere mich auch, dass es ein warmer Sommertag war, als wir in Freschluneberg ankamen. Uns wurde ein Zimmer zugeteilt, ca. 2,5 x 3 m, ausgestattet mit einer Feuerhexe, einem Bett, einem Vertiko, einem Tisch und zwei Stühlen. So mussten ja viele zunächst auskommen. Kurz nach uns musste noch eine Familie aus Schlesien auf dem Bauernhof untergebracht werden.

Wir waren offiziell immer noch Bremerhavener und hatten einen Rückevakuierungsanspruch. Zunächst versuchten Familien, deren Väter in Bremerhaven arbeiteten, nach dort zurückzuziehen. Unsere Mutter kümmerte sich nicht so schnell darum, es war ihr auch kaum möglich eine neue Wohnung in Bremerhaven einzurichten. So blieben wir in Freschluneberg. Erst 1959 erhielten wir ein Rückevakuierungsangebot, als der neue Stadtteil Grünhöfe gebaut worden war. In dem Jahr hatten mein Bruder und ich alle schulischen Ausbildungen abgeschlossen, für die uns in Bremerhaven Schulgeldfreiheit sicher gewesen wäre. Daher entschlossen wir uns, auf einen Rückzug nach Bremerhaven zu verzichten und wurden in Lunestedt sesshaft.


Quelle
Das Gespräch am 2.3.2005 wurde von Arnold Plesse aufgeschrieben.
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